"Das Lächeln am Rand der Welt" Leseprobe

 

Pastor Vinzenz Baptist Ingenfeld starrte gedankenverloren  in eine appetitliche Portion gebratener Lampreten. Vor noch nicht einmal einer ganzen Stunde hatte er seinen Glauben verloren. Es passierte, als er auf der Europabrücke, zwischen Portugal und Spanien, den Fluss Minho überquerte. In der Mitte der ästhetischen stählernen Konstruktion aus dem 19. Jahrhundert geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Pastor Vinzenz trat über in eine andere, politisch bedingte, Zeitzone und befand sich sowohl umgehend eine Stunde in der Zukunft, als auch in Spanien. Parallel dazu traf ihn die Erkenntnis. Von einer Sekunde auf die andere brach sein gesamtes theologisches Weltbild in sich zusammen. Er fühlte sich wie Saulus auf dem Weg nach Damaskus. Nur umgekehrt. Nicht geblendet, sondern klar und deutlich sehend.  Die gebratenen Lampreten starrten anklagend aus ihren neun Augen zurück. Das Aroma der Fische und der frische Duft des leichten Weißweines holten ihn in die Gegenwart zurück. Er tunkte ein Stück Brot in das aromatische Öl, in dem die Neunaugen schwammen und schüttelte den Kopf, ungläubig, als wollte er einen Alptraum verscheuchen. Ein Schluck Wein holte ihn endgültig aus seinen verlorenen Gedanken. Pastor Vinzenz wunderte sich ein wenig über sich selbst. Er hatte Leid, Schmerz, Verzweiflung, ja sogar eine absurde Form von Liebeskummer als Reaktion erwartet. Stattdessen fühlte er sich auf eine undefinierbare Weise erstaunt und verwundert. Er aß mit gutem Appetit. Der Wirt des kleinen Lokals unterhalb der Kathedrale brachte ihm unaufgefordert eine weitere Karaffe des frischen Weißen. „Continuou bo apetito, el Señor“. Sein weißer Kollar und das schwarze Stehkragenhemd machten ihn leicht als Geistlichen kenntlich. Kollar und Hemd waren seine einzigen Konzessionen an seinen Beruf, hier auf dem Jakobsweg von Porto nach Santiago.

 

„Beruf“, dachte er. „Nicht Berufung. Nicht mehr“.  Seit sechs Tagen war er nun unterwegs. Ganz bewusst hatte er sich für den ruhigen Weg durch Portugal entschieden. Vinzenz wollte zu sich kommen, des Chaos in seinem Kopf wieder Herr werden. Er legte Messer und Gabel zusammen und tupfte sich die Lippen an der Serviette ab, bevor er das Weinglas  wieder zum Mund führte. Der Pastor seufzte leicht. „Herr Du weißt, ich hab es mir nie leicht gemacht. Nie war ich einer Deiner bequemen Hirten.“   Er schmunzelte selbstironisch. Alte Gewohnheiten sterben langsam. „Eli, Eli, lema sabachthani?“[1] murmelte er mit einem leisen sardonischen Lachen.  Bereits im Priesterseminar, vor mehr als fünfundzwanzig Jahren, war er für seinen Galgenhumor bekannt gewesen. Er beschloss Café und Digestiv im Schatten der Kathedrale zu sich zu nehmen. Gegenüber dem gewaltigen, gotischen Hauptportal ließ er sich an einem kleinen Cafétisch nieder. Aus der Innentasche seiner Softshell-jacke holte er ein zerbeultes Zippo und eine Romeo y Julieta Nummer 1 hervor. Bei einer molligen Frau mittleren Alters mit einem brünetten Haarknoten  und Plastik-Pantoletten bestellte er sich einen Café Cortado und einen Hierbas. Vinzenz prostete den Heiligen und den Propheten, die das Hauptportal zierten, zu. Er blies perfekte Rauchringe in den blauen Himmel dieses lauen galicischen Maientags und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Auf den sonnenbeschienenen Stufen des Kathedralen-Vorplatzes genossen Pilger und Touristen die Sonne. Die Pilger waren, auch ohne ihre Rucksäcke, leicht zu erkennen. Ihre Kleidung war, bei allem Individualismus, immer zweckmäßig. Ihre Gesichter waren von der Sonne und dem stetigen Wind, der vom Atlantik wehte, anders gebräunt als die Gesichter der Urlauber. Handfester, abenteuerlicher. Auch er sah so aus. Wettergegerbt, die graumelierten, immer noch dichten Haare zerzaust und mit einem stellenweise schon weißen Sechstagebart. Er war schlank, sportlich und von durchschnittlicher Größe. Am auffälligsten an ihm waren die hellblau leuchtenden Augen in einem ungewöhnlich hübschen Gesicht. Vinzenz Baptist Ingenfeld war das, was man allgemein einen schönen Mann nennt. Auch jetzt, in seinen frühen Fünfzigern, war er eine auffallende, attraktive Erscheinung. Als jungem Kaplan hatte man ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Giuliano Gemma[2] nachgesagt.  Er spielte mit dem Cognacschwenker, ließ Zigarrenrauch in das Glas strömen und versuchte die, über dem Portal der Kathedrale, in Stein verewigten Figuren namentlich zu benennen. Bei Moses, Jesus, Petrus und natürlich seinem Zweitnamenspatron Johannes dem Täufer war er sich sicher. Die Geburt Christi über dem Türsturz mit Maria im Himmelbett sprach auch für sich. Bei einigen anderen Figuren war er sich nicht sicher. Dabei galt er ansonsten als äußerst bibelfest. In seiner Familie war es nun schon seit vielen Generationen Tradition, dass der jüngere Sohn und manchmal auch eine weniger begehrenswerte Tochter  ihr Heil im Schoß der Kirche suchten. Er war ein mittlerer Sohn. Er hätte auch etwas ganz anderes studieren können als Theologie. Politik, Geschichte oder Sozialwissenschaften. Aber er fühlte sich gerufen. Bis vor zwei Jahren hatte er diese Lebensentscheidung nie in Frage gestellt. Seitdem hatte er mit niemandem über seine Zweifel gesprochen. Die Furcht mit den anderen Endvierzigern in den Midlife-Crisis Topf geworfen zu werden, war zu groß. Vinzenz lächelte bitter. Wenn es doch nur das wäre. Mit dem Gefühl etwas verpasst zu haben, mit einem wütenden, verzweifelten sich dem Alter Entgegenstemmen wäre er gut zurechtgekommen. Aber er musste ja seinen Glauben verlieren. Die Sonne des frühen Nachmittags schien warm in sein Gesicht. Er bestellte einen weiteren Hierbas, als sein Smartphone eine eingehende Nachricht signalisierte. Der Pastor setzte die Lesebrille auf und blickte auf das Display. Der Facebook Messenger. Ein Smiley von Klemens, seinem jüngeren Bruder, mit einem ganzen Rudel an Fragezeichen. Typisch Klemens. Zu faul, um in ganzen Sätzen zu schreiben und zu fragen wie es ihm ginge. Vinzenz rief seine Facebook App auf und postete ein Foto der Kathedrale von Tui. Dazu schrieb er einen lapidaren Postkartentext über das Wetter und die tolle Landschaft. Nach ein paar Minuten gingen die ersten „Likes“ ein. Er scrollte ein wenig durch seine Timeline, übersprang die unvermeidlichen Katzenbilder und amüsierte sich über die Postings eines bekannten Kabarettisten. Er steckte das Smartphone wieder ein und schloss die Augen. Vinzenz genoss das warme Licht und blickte daher etwas verärgert auf, als sich ein Schatten zwischen ihn und die Sonne schob. Im Gegenlicht konnte er die Person vor ihm nicht erkennen. Er sah nur, dass es sich um eine Frau handelte. „Si?“ fragte er und bekam zur Antwort ein leises Lachen. „Hallo Vinny“, sagte die Frau mit einem amüsierten Unterton.

 

                               ***

 

 „Schwester Miriam, Du willst doch bestimmt das Bett am Fenster, oder?“ Der schlaksige Junge mit den dunkelblonden Dreadlocks blickte dabei in Richtung  der hochgewachsenen Nonne. Schwester Miriam lachte leise und ließ dabei   beeindruckend perfekte Zähne blitzen, die ihr Alter Lügen straften. Sie ließ den 30 Liter Rucksack von ihrer Schulter gleiten und stellte ihn neben dem Fenster ab.

 

„Nun schau sich einer diesen schönen Ausblick an“, murmelte sie. „Wow“, pflichtete ihr der blonde Rasta bei. Der Ausblick war in der Tat wunderschön. Unterhalb der Dächer blickte man auf den Minho und direkt rechts vom Fenster ragte eine barock verzierte Kirchenfassade empor, die in einem zierlichen Glockenturm endete. Die Tür zum Dormitorio öffnete sich geräuschvoll und zwei junge Männer und eine junge Frau drängten in den Raum. „Wow!“ sagten alle drei gleichzeitig. „Hab ich auch schon gesagt“, grinste der Junge mit den Dreadlocks. „ Die schönste Herberge seit Fernanda!“ Alle nickten. Die junge Frau blickte die Nonne an. „Oben oder unten, Miriam?“ Schwester Miriam lachte laut auf. „Cristina, die Klettertouren überlasse ich gern dir. Ich schlafe unten.“

 

Die Gespräche verstummten, während jeder der fünf Pilger sich einrichtete, seinen Rucksack neu ordnete und die tägliche Herbergsroutine abspulte.

 

Eine dreiviertel Stunde später betraten alle fünf, erholt und frisch geduscht, die Kathedrale von Tui. Schwester Miriam war sich der Tatsache bewusst, dass sie einen Ort wie die Kathedrale mit anderen Augen sah, als ihre vier jungen Wegbegleiter. Daher beließ sie es auch bei einer kurzen viertelstündigen Besichtigung. Vielleicht würde sie später noch einmal allein die Kathedrale besuchen. Außerdem verspürte sie Hunger. Die Fünf traten aus dem Dämmerlicht des gotischen Gebäudes hinaus in den gleißenden Sonnenschein. Schwester Miriam blieb kurz vor dem gewaltigen Portal stehen, um die filigranen Steinmetzarbeiten zu betrachten. Ihre vier Begleiter ließen sich auf den Stufen zum Kirchvorplatz nieder. Das trockene Zischen eines Schwefelholzes auf der Reibfläche einer Streichholzschachtel durchbrach die frühsommerliche Stille. Ein leichter Geruch, wie von verbranntem Heu, wehte durch die Luft. Miriam musste lächeln. Ohne sich umzudrehen, wusste sie das Nick, Eric, Jan und Cristina sich einen Joint teilten. Als sie zu Ihnen trat, schauten alle vier ein wenig schuldbewusst. Im Umgang mit einer Nonne waren sie in manchen Situationen noch unsicher.   

 

Jan fing sich als erster. „Schwester Miriam? Du auch?“ fragte er, grinste und hielt ihr den halbgerauchten Joint entgegen.

 

Miriam zuckte die Achseln, nahm den Joint und inhalierte tief.

 

Sie ließ den Rauch  für die Dauer von drei Atemzügen in Ihrer Lunge, bevor sie ausatmete. „Nicht übel“ dachte sie. Die leicht ungläubigen Blicke, die auf sie gerichtet waren, nahm sie amüsiert zur Kenntnis.

 

„Guckt nicht so, ich bin Nonne, keine Heilige.“ Grinsend ergänzte Sie „Obwohl… in Indien kiffen die Sadhus, die heiligen Männer, die Shiva verehren, praktisch pausenlos… und in der Antike galt der Rauch des Hanf vielerorts als heilig.“ Sie zog noch einmal kräftig und reichte dann weiter an Cristina. „Jetzt hab ich aber wirklich Hunger“, sagte sie.

 

Zwei Straßen unterhalb des Kathedralplatzes nahmen sie in einer gemütlichen Bar Platz. Die handbeschriftete Kreidetafel an der Wand versprach eine preisgünstige und reichhaltige Auswahl an Tapas und „Raciones“. Hinter der Bar lief stumm ein Fernseher und aus den voluminösen Boxen an den Wänden klang leise, aber kraftvoll, 60er Jahre Rock. Der Wirt, ein Mittzwanziger mit wilden Locken und einem abenteuerlichen Dreitagebart, trat an den Tisch. „Si?“ Schwester Miriam lächelte ihn freundlich an.

 

 „Dígame, señor, me puede recomendar un buen blanco de la región[1]?“ Der Wirt zog respektvoll die Augenbrauen nach oben und schaltete übergangslos auf ein ziemlich gutes Deutsch um.

 

„Eine Flasche? Wasser dazu? Und ein paar Tapas?“ Alle nickten. Er klatschte leicht in die Hände. „Ich stelle euch etwas zusammen, de acuerdo?“  Kurz darauf stellte er fünf Tumbler mit einem gelben Getränk auf Eis auf ihren Tisch. „Ein kleiner Aperitivo, Hierbas con hieló. Salud!“

 

                                                                              ***

Die Straßen von Triacastela waren wie ausgestorben zu dieser frühen Morgenstunde und wirkten ganz anders, als am Abend zuvor, als hunderte Pilger und Einheimische die Straßen, Restaurants und Terrassen der Bars mit Leben erfüllt hatten. Mercedes betrat eine der wenigen kleinen Bars, die zu dieser Zeit bereits geöffnet hatten und bestellte sich einen Café con leche und ein Croissant. Während sie ihr Frühstück verzehrte, blätterte sie in ihrem Pilgerführer. Über Samos oder über San Xil, das war die Frage. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich gegen die Strecke über Samos und sein Kloster und stattdessen für die kürzere Route.  Nicht zuletzt, weil es nun  anfing zu nieseln. Ein leichter, feiner Sprühregen, der so typisch für den galicischen Frühling war. Mercedes entschied sich gegen den Regenponcho, in dem sie mit ihrem Rucksack aussah, wie der buckligste Glöckner seit der Notre Dame Verfilmung mit Charles Laughton. Stattdessen zog sie eine leichte Regenjacke an und setzte einen Filzhut auf  ihre dunkelblonden Locken.  Auf dem Weg aus der Stadt kam sie noch einmal an der Herberge Aitzenea vorbei, in der sie die Nacht verbracht hatte. Auf der Höhe eines blauen Schildes, das Autofahrer ermahnte rücksichtsvoll zu fahren, um die Pilger zu schonen, überquerte sie die Straße. Sie spürte noch deutlich den Muskelkater im Gesäß, den sie sich auf dem strapaziösen Weg von Villafranca nach O´Cebreiro erlaufen hatte. Rund fünfundzwanzig Kilometer bergauf steckte man auch mit einer mehrwöchigen  Laufroutine nicht einfach so weg. Aber sie wusste, dass auch dieser Muskelkater vergehen würde. Kurz darauf bog sie in eine von Bäumen überdachte Landstraße ein und ging zügig Richtung San Xil. Ein rostiger Kleinwagen, von undefinierbarer Farbe, flitzte an ihr vorbei, nicht ohne es zu versäumen, dabei durch eine Pfütze zu fahren und sie nass zu spritzen. „Puta madre“, knurrte sie. Immer wenn sie fluchte, verfiel sie gern in die Sprache ihrer Mutter. Sachliche Themen handelte sie lieber auf Deutsch ab, der Sprache ihres Vaters. In der Ferne vor sich sah sie die kleine Gestalt eines weiteren Pilgers, der ebenfalls zügig durch den Regen stapfte.

Nach gefühlten fünf Kilometern machte sie Rast an der Quelle von San Xil. Der Regen hatte aufgehört. Unter ihrer Regenjacke klebte das Multifunktionsshirt an ihrer Haut, sie tauschte die Regenjacke gegen ein Fleeceshirt aus und zündete sich eine Zigarette an. Versonnen betrachtet sie zwei Eichhörnchen, die so verspielt durch die Bäume tobten, als würden sie dafür bezahlt. Weit und breit war kein anderer Pilger zu sehen. Sie klopfte sich innerlich für ihren Entschluss, nie vor halb acht morgens loszulaufen, auf die Schulter. Mercedes konnte dem frühmorgendlichen Aufbruch der Massen nicht viel abgewinnen. Die Sonne durchbrach die Wolken, sie schulterte ihren Rucksack und lief weiter.

Nach ein paar Minuten kam ihr ein Fiat 500 entgegen, der neben ihr hielt. Der Beifahrer drückte ihr einen Flyer in die Hand, sagte „Bon Camino“ und winkte zum Abschied.

Sie las: Casa Barbadelo. Pension rural. Albergue. Habitaciones con baños privados.

 “Und damit wäre die Herbergsfrage für heute geklärt”, sagte sie zu sich selbst.

Mercedes folgte den Wegmarkierungen vorbei an kleinsten Dörfchen, durch verwunschene dichte Wälder und über Feldwege, bis sie den Stadtrand von Sarria erreichte.

Verblüfft stellte sie fest, dass sie nun seit mehreren Tagen nicht mehr an die Probleme und Sorgen des letzten Jahres gedacht hatte. Weder an ihren Ex, noch an den stressigen Umzug, die grauenhaft mühselige Wohnungssuche, die Probleme mit den Behörden und dem ermüdenden Auseinanderklauben eines ehemals gemeinsamen Lebens. Sie hatte auch nicht mehr an die gemeinsamen Freunde gedacht, von denen  viele nun die Freunde ihres Exmanns waren. Im Nachhinein war es ihr peinlich, wie sehr es sie getroffen hatte, als er mit zwei Koffern die gemeinsame Wohnung verließ. Zwei Tage hatte sie zusammengerollt und heulend auf dem Sofa verbracht und dabei allen Ernstes Air Supply in Endlosschleife laufen lassen, während sie sich von Erdnüssen und Rotwein ernährte. Puta madre, dachte sie, Mädchen, was warst du blöd! Sie atmete durch, lachte befreit auf und gestattete sich ein mittellautes „Yippie“, das eine Katze aufscheuchte, die sie beleidigt anblickte, bevor sie hinter einer Hecke verschwand.

Sie pfiff den legendären Monty Python Song „Always look on the bright side of life“ und schlenderte weiter.

Der Weg leitete sie nun vorbei an Wohnblocks und Einkaufsstraßen, bis sie die Treppe erreichte, die in die Altstadt und in Richtung des Klosters aus dem 13. Jahrhundert führte. Treppensteigen war, seit dem Weg aus den Montes de Leon hinunter in die Ebene, nicht unbedingt ihre liebste Beschäftigung. Die Knie hatten auf diesem langen Abstieg einiges mitgemacht. Vor dem Schaufenster des Pilgerbedarfladens blieb sie kurz stehen und bewunderte die, zum Teil abenteuerliche, Auslage. Am höchsten Punkt der Rúa Maior nahm sie Platz vor einer Tapasbar und genoss die anmutige Kulisse der Häuser aus dem 18. Jahrhundert, die die Straße umrahmten. Sie bestellte sich eine Tapa Portion Croquettas, ein paar Albondigas und einen Ensaladilla Rusa. Ein Glas leichter Weißwein rundete ihr spätes Mittagessen ab. Aus dem Lokal drang lautes Gelächter und ein Pilger trat aus der Bar, den Rucksack auf einer Schulter. Er hatte ein Weinglas in der Hand und ließ sich am Nebentisch nieder. Sie erkannte den Mann sofort wieder. Er war ihr seit Saint-Jean-Pied de Port immer wieder mal begegnet. Ein ruhiger, höflicher Mensch, der obendrein, trotz aller Pilgerromantik, immer sehr gepflegt wirkte und, wie sie bemerkt hatte, immer dezent nach Antaeus von Chanel duftete. Er war durchschnittlich groß, relativ schlank, vermutlich Mitte vierzig, mit leicht schwindendem Haaransatz und von den Tagen auf dem Weg gut gebräunt. Sein Gesicht war markant, hatte aber genügend weiche Züge, um nicht hart oder zu maskulin zu wirken. Seine Augen, so schien es ihr, trugen immer den leichten Ausdruck von unbestimmter Traurigkeit in sich. Im Ausschnitt seines Hemdes baumelte ein Ehering an einem Lederband. Sein Ringfinger wies die leichte Einkerbung auf, die Ringe bei ständigem Tragen hinterlassen. Vermutlich trug er den Ring am Hals, weil die Finger bei langen Wanderungen dazu neigten anzuschwellen. Sie lächelte ihn freundlich an, er hob sein Glas und prostete ihr andeutungsweise zu, zuckte mit den Schultern und sagte: „Etwas laut da drin.“  Wiederholt war lautes Lachen aus der Bar zu vernehmen, unterbrochen von einem nicht minder lauten „Holla Sengjor, zwei Servessas, porr Faworr!“ Mercedes rollte mit den Augen. Sie ahnte, wer da in der Bar saß und die Estrellabestände minimierte. Als ob ihr Körper ihr einen Streich spielen wollte, meldete sich ihre Blase. Bevor sie aufstand und das WC der Bar aufsuchte, wandte sie sich ihrem Nachbarn zu: „Tust du mir einen Gefallen und setzt dich zu mir?“ Ihre Kopfbewegung in Richtung Bar sprach offenbar Bände. Antaeus, wie sie ihn in Gedanken nannte, setzte sich umgehend mit an ihren Tisch und lächelte sie verschmitzt an. Sie fand es erfreulich, dass sein Lächeln auch seine hellblauen Augen erreichte. Auch jetzt umwehte ihn noch eine sanfte Ahnung von Chanel.

 

Ein Blick ins Buch?

 

Viele Leser*Innen haben mich gefragt, ob es eine Fortsetzung für Mercedes und Kim aus "Das Lächeln am Rand der Welt" geben wird. Vermutlich ja. Bis es soweit ist, knüpfe ich mit einer Kurzgeschichte da an, wo wir die beiden Pilgerinnen verlassen haben...

Friday on my mind (The Easybeats)

Mercedes erwachte, kurz bevor das Flugzeug rumpelnd landete, und gähnte. Die zweieinhalb Stunden Schlaf auf dem Flug von Madrid nach München hatten ihr gutgetan. Dennoch glich der Flugzeugschlaf keine durchliebte Nacht aus. Sobald sie den Flughafen verlassen hätte, würde sie sich ein Taxi nehmen. Pfeif drauf, dachte sie. Eine Dreiviertelstunde S-Bahn war etwas, auf das sie jetzt gut verzichten konnte. Der Taxifahrer war so schweigsam wie Travis Bickle, was Mercedes sehr begrüßte. Als sie die Wohnungstür aufschloss, fiel ihr auf, dass sie die vier Etagen zum ersten Mal ohne Schnaufen bewältigt hatte. Altbauten haben ihren Charme, Jugendstilgebäude in München sogar ganz besonders. Allerdings haben sie auch selten einen Aufzug, was nicht wirklich durch noch so schöne Eichenholztreppen ausgeglichen wird. Sie ließ den Rucksack, der sie in den letzten sechs Wochen treu begleitet hatte, von der Schulter gleiten und zog die Wanderstiefel aus. Aufräumen würde sie später. Sie überlegte kurz, ob sie duschen wollte. Als sie dann im Bademantel vor dem Spiegel stand, meinte sie immer noch den Geruch der letzten Nacht an sich wahrnehmen zu können. Sie verwarf den Gedanken an eine Dusche. Die Sonne schien auf ihren kleinen, halbrunden Balkon, der gerade genug Platz für eine gemütliche Sitzecke bot. Mit einer Tasse Tee setzte sie sich hinaus und rauchte. Sie schaute auf die Zeitanzeige ihres Smartphones. Kim war nun schon seit über einer Stunde in der Luft. Vermutlich würde sie in vier, fünf Stunden in Doha zwischenlanden. Sie überlegte, ob sie ihr eine SMS oder ein kurzes Video schicken sollte. Ihre Wahl fiel auf eine Textnachricht. Für Videos, Sprachnachrichten und Fotos war noch mehr als genug Zeit. Was sollte sie schreiben? Sie war sonst nie um Worte verlegen. Jetzt fiel es ihr schwer. Die unerwartete Gefühlsexplosion der letzten Nacht lag nur wenig mehr als zwölf Stunden zurück. In Ihrem Inneren herrschte ein buntes, erotisches Chaos, das in seinem Liebreiz Kim in nichts nachstand. Das arg strapazierte Bild der Schmetterlinge im Bauch traf den Zustand nicht einmal ansatzweise. Es war eine völlig neue Erfahrung. Transzendenz. Das Wort schwamm durch ihr übermüdetes Gehirn wie ein heiterer Leviatan und winkte ihr zu. Bis zu diesem Moment hatte das Wort Transzendenz für sie nur eine akademische Bedeutung gehabt. Jetzt schien es ihre jüngste Erfahrung zu beschreiben. Sie entschied sich für eine kurze, sachlich – liebevolle Nachricht. Bin gut zuhause angekommen. Todmüde. Ich denk an dich. Melde dich, wenn du zuhause bist. Sie fügte noch einen Kuss-Smiley hinzu. Warum fällt es mir nur so schwer die richtigen Worte zu finden, dachte sie. Weil du gerade ohne Kompass, Karte und Knigge in einem fremden Land umherläufst, antwortete ein anderer Teil von ihr. Du bist an einem ähnlich fremden Ort wie damals, mit vierzehn, auf der Achterbahn. Mit Sebastian aus der 10a. Bitte anschnallen, genieß die Fahrt!  Die Erkenntnis ließ sie kichern. In Ordnung, dachte sie, aber jetzt … schlafen. Morgen würde sie Ben anrufen. Sie brauchte ein offenes Ohr und jemanden, der mit ihr bereits tagsüber trinken würde. Mit diesem Gedanken und einer zarten Erinnerung an Kims Geruch schlief sie ein. Um vier Uhr morgens erwachte sie. Frisch und ausgeruht. Sie beschloss, die frühe Stunde zu nutzen und Ordnung zu schaffen. Aber zuerst Kaffee. Da sie Zeit hatte, zelebrierte Mercedes das Kaffeekochen. Sie setzte Wasser in einem Kessel auf und holte die French Press aus dem Regal.  Im Tiefkühlfach fand sie noch etwas Toast. Margarine und Quittenmarmelade waren noch haltbar. Einem Frühstück, im wahrsten Sinne des Wortes, stand nichts im Weg. Der Designer ihres Wasserkessels war auf die charmante Idee verfallen, im Ventil zwei Mundharmonika-Tonkörper zu installieren. Sobald das Wasser kochte, erklang ein angenehmes Flöten in den Tonlagen E und H. Als würde ein Folkmusiker in ihrer Küche seine Instrumente stimmen. Sie hatte den Kessel deshalb Bob getauft. Bob war der einzige Gegenstand in ihrem Besitz, der einen Namen erhalten hatte. Es war eine spontane Entscheidung gewesen. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau, die ihrem Staubsaugerroboter oder ihrem Auto einen Namen gaben. Obwohl zum Staubsauger der Name Kevin gut gepasst hätte. Sie beschloss auf dem Balkon zu frühstücken. Es wurde bereits hell und die Vögel in den Hinterhofkastanien waren schon redselig. Sie kaute auf dem letzten Bissen ihres Toasts und schaute auf ihr Smartphone. Kim hatte ihr aus Doha ein Foto geschickt. Natürlich war es niedlich. Mercedes musste lächeln. Ein gewisses Maß an Cuteness-Overload schien in Kims Genen fest verankert zu sein. Es war fast Fünf und die erste Morgenröte hing schon über den Dächern der Stadt. In der nächsten halben Stunde würde Kim in Singapore landen. Sie schrieb eine Message an Ben. Hast Du heute Zeit? Ich muss Dir so viel erzählen!

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Aus  "Surfer Girl"

Die Welle wuchs unter ihm und nahm ihn mit. Er paddelte weiter und hörte erst als auf, als er sah, dass er sich auf dem Kamm der Welle befand. Mit beiden Händen stabilisierte er sein Board und blickte hinab. Es sah ganz so aus, als hätte er eine ziemlich hohe Welle erwischt. Drei Meter unter ihm befand sich die Wasseroberfläche. Vor der Welle schäumte das Weißwasser. Die Welle blieb stabil und lief auf den Strand zu. Dann brach sie. Sein Brett glitt mit ihm in rasender Fahrt abwärts, wie auf einer Rutsche und die von hinten herandrängenden, brechenden Wellen beschleunigten seine Fahrt. Es war ein berauschendes Gefühl. Die Angst, die er noch vor Sekunden empfunden hatte, war einem Adrenalinkick gewichen, der ihn laut jubeln ließ, als er auf den Strand zuraste. Keuchend und vor sich hin kichernd, das Brett neben ihm, lag er im Sand und schaute den Surfern weiter draußen zu. Er blinzelte in die Sonne. Es lag vermutlich am Licht und dem Salzwasser in seinen Augen, aber das Wasser schien sich zu teilen und eine Göttin erhob sich aus den Fluten. Die Vision wurde etwas klarer und aus der Göttin wurde eine Surferin. Was in Anton Czerwinskis Welt so ungefähr das Gleiche war. Unter dem Arm trug sie ein schmales, kurzes Board. Mit ihrem goldbraunen Teint, dem zierlichen, athletischen Körper, den nassen, dunklen Haaren und dem feinen, glücklichen Lächeln bot sie einen hinreißenden Anblick. Eine wahrhaftige, schaumgeborene Venus, dachte er. Sie blieb vor ihm stehen und grinste ihn freundlich an.

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Aus "Club Tropicana ´87"

 An manchen Orten spielt Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Westberlin war so ein Ort. Wo Zeit lediglich ein abstraktes Konzept darstellte, das nur für manche Leute von Bedeutung war. Sie saßen zu viert in einer Bar an der Yorckstrasse, Ecke Mehringdamm. Zeit war nicht wichtig. Keiner von ihnen musste am nächsten Tag früh aufstehen. Die Bar, in der sie ursprünglich abhängen wollten, hatte ihr Konzept geändert. Anstatt Wave und Punk spielte man dort jetzt House, Hip-Hop und DJ Westbam. Auf die Tanzfläche hatte irgendein Schwachkopf eine Art Löwenkäfig gestellt und das Publikum trug schreiend neon-bunte Klamotten. Das Smiley Logo, das zuletzt in den späten Siebzigern modern gewesen war, schmückte gefühlt jedes dritte T-Shirt. Und fast jeder in dem Laden war auf Ecstasy. Die Pillen trugen ebenfalls das Smiley Logo. Eingestanzt in die pudrige Oberfläche. Es war grauenhaft. „Was zum Henker ist verkehrt an Haschisch?“ fragte Sven in die Runde und trank einen Schluck Bier. Dann verzog er angewidert das Gesicht. „Ich werd´ mich nie an diese Berliner Brühe gewöhnen können. Das Zeug schmeckt schon schal, wenn es aus dem Hahn kommt.“ Er stellte das Glas ab und signalisierte dem gruseligen Typen hinter der Bar ihnen vier Tequila zu bringen. „Ne, ernsthaft, ich mein´, wenn man sich schön abschießen will, säuft man, wenn man einen coolen, relaxten Flow will, kifft man. Und wenn man die ganze Nacht und länger durchfeiern will, kokst man. Aber Acid, das versteh´ ich nicht.“ Der Tequila kam. Der Barkeeper war lang und dünn, sein Gesicht war blass, hohlwangig und geschminkt. Die rechte Kopfseite war fast kahl rasiert und über die linke fiel eine glatt gekämmte Popper-Tolle. Der Look sollte wohl existenzialistisch wirken. In Kombination mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte wirkte es allerdings eher unheimlich. Irgendwie schwarz-weiß. Wie ein Stummfilmvampir. Sven reichte ihm sein leeres Bierglas. „Noch eins. Und tu mir bitte ein paar Eiswürfel rein. Das ist sonst nicht zu ertragen. Danke.“ 

 

Ohne Schmerz - Kein Halleluja

Ein paar Auszüge als Leseprobe

 

Dummes Motiv – gute Idee

 

Es gibt so viele Gründe, wie Menschen, um den Jakobsweg zu gehen.

Und JEDER halbwegs gesunde Mensch kann ihn gehen. Bis ins hohe Alter.  Bis Anfang 2012 konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, den Camino zu gehen. Wozu auch? Meinen spirituellen Weg habe ich längst gefunden, die Lasten, die mich bedrücken, kann ich ganz gut schultern und der Allersportlichste war ich noch nie. Der Teufel, der mich geritten hat, mich doch auf den Weg zu machen, heißt vermutlich Midlife-Crisis. Aus dem Nichts, maliziös wie Schneewittchens Stiefmutter, schlendert  meine Midlife-Crisis, süffisant grinsend um die Ecke. Mein innerer Peter Pan jault panisch auf, wenn er nur an den bevorstehenden 50. Geburtstag denkt. Ich versuche ihn mit einem Drink zu beruhigen und erinnere ihn daran das 50 schließlich das neue 39 ist. Keine Chance,  er will jetzt unbedingt noch mal ein Rucksackabenteuer, so wie damals in Griechenland, Indonesien, Louisiana.  Passend dazu setzt mein Kumpel Reinhard meinem Peter Pan die Flause in den Kopf, dass der Camino de Santiago für uns genau das Richtige wäre.  Ich checke meine Urlaubstage, stelle fest, dass es für zwei Wochen reicht und sitze vier Wochen später am Flughafen München und warte auf meinen Flug nach Oviedo. 

 

Wieso Leon – Santiago?

 

Immerhin gibt es ja genügend andere Möglichkeiten die verschiedenen Abschnitte des Camino zu gehen.

Manche haben das Glück die kompletten 790 Kilometer in einem Rutsch gehen zu können. Manche splitten die Strecke über mehrere Jahre. Und manch einer nimmt einen der kürzeren Wege nach Santiago, wie den Camino Portuguese oder den Primitivo, die beide in rund zwei Wochen zu bewältigen sind.

Ich für meinen Teil möchte, so wie viele andere Pilger auch, bei meinem ersten Camino gern in Santiago ankommen. Das

spezielle Gefühl spüren, an einem gemeinsamen Ziel angekommen zu sein, andere von unterwegs wieder zu treffen und den uralten Pfaden dorthin gefolgt zu sein,  was schon Ziel unzähliger Generationen seit über 1000 Jahren ist. Weil ich nicht weiß ob ich so etwas noch einmal machen werde, und weil ich nur zwei Wochen Zeit habe, fällt meine Wahl auf die Strecke Leon – Santiago. Natürlich geht es auch noch kürzer.

Ab Ponferrada, Sarria oder Portomarin zum Beispiel, aber das echte Pilgerfeeling stellt sich wirklich nur ein, wenn Du wenigstens 10 - 12 Tage wanderst. 

 

Große Erwartungen…

 

…ist ein gutes Buch von Charles Dickens.  Was erwartet Dich?

Es liegt an Dir. Entweder eine der besten Erfahrungen Deines Lebens oder einfach nur eine gute Zeit. Wenn du Pech hast auch Schmerz und Tränen. Die beste Voraussetzung ist es, nichts zu erwarten und auf alles vorbereitet zu sein.  Ganz egal warum Du den Camino gehst, ob aus sportlichen, religiösen, spirituellen Gründen oder nur aus reiner Abenteuerlust – der Weg wird Dich verändern.  Du wirst körperlich an Grenzen stoßen und darüber hinausgehen, Du wirst Menschen aller Art und aller Herren Länder auf eine Art und Weise kennenlernen, wie Du sie im Alltag niemals kennenlernen würdest. Du wirst Extreme erleben, Freundlichkeit, Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Du wirst besondere Gespräche führen. Mit Dir selbst und mit anderen. Völlig Unbekannte können Dir ihr Innerstes offenbaren.  Du wirst Dich prächtig amüsieren, Du wirst fluchen, Du wirst stolz auf Dich sein und auf andere. Du wirst mitfühlen, Du wirst lachen, gut essen, trinken, genießen, Freundschaften schließen und unvergessliche Erinnerungen mitnehmen. 

 Und wenn Du zurück bist, wird ein Stück Deiner Seele immer noch dort sein – auf dem Camino de Santiago. Mit anderen Worten: Du wirst vermutlich eine der besten Zeiten Deines Lebens haben! Und denk daran: es ist Dein Weg. So etwas wie

„Den Weg“ gibt es nicht.  Es ist das was Du daraus machst.

Geh Deinen Weg mit Freude, mit offenem Verstand und ohne

Erwartungen und alles kann passieren.

 

 

 

Pilgeretikette

Hilfsbereitschaft auf dem Weg ist eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie Freundlichkeit und Rücksichtnahme.

Nicht jeder beherrscht die Sache mit der Rücksicht, aber auch daran lässt sich arbeiten.

Pilger helfen einander, leihen sich bei Bedarf gegenseitig etwas, laden sich auch mal auf einen Wein ein und achten allgemein unterwegs aufeinander.

Und keinesfalls stehen sie um 05.30h morgens mit der Stirnlampe kramend und raschelnd im Schlafsaal herum und nerven ihre Mitpilger!

Manch einer trabt bereits um 06.00h durch die spanische Finsternis, nur um möglichst früh in einer Herberge anzukommen und dort noch ein Bett zu bekommen.

Lieber Pilger in spe – das man kein Bett mehr bekommt, ist ein hartnäckiges Gerücht, irgendwas geht immer! Es besteht also kein Grund zur Panik!

Der freundliche Gruß „Buen Camino“ unter Pilgern ist gern gehört und die grimmig dreinschauenden älteren Herrschaften vor den Bars der Dörfer freuen sich auch über ein freundliches „Buenos Dias“ oder „Buenos Tardes, Senores!“ Falls Du unterwegs angehupt wirst von spanischen Autos, so grüß einfach winkend, viele Spanier glauben, es bringt Glück von Pilgern gegrüßt zu werden. Abgesehen davon kann man gar nicht genügend gutes Karma haben. Für den Fall, dass Du auf die Idee kommen solltest unter freiem Himmel zu schlafen, verzichte bitte auf das Bett im Kornfeld. Spanische Bauern finden es überhaupt nicht lustig, wenn ihnen jemand die Saat zertrampelt, im Getreide Kornkreise zieht und ihre Scholle unaufgefordert düngt.  Die meisten spanischen Landwirte haben   Schrotflinten und ziemlich schlecht gelaunte Hofhunde. Auch das romantische Lagerfeuer unter freiem Himmel wird fast überall äußerst ungern gesehen. Und den spanischen Autoritäten in Form der Guardia Civil oder der Policia Local ist es ziemlich einerlei, ob Du der Jahrgangsbeste im Feuermachen bei den Pfadfindern gewesen bist.

 

 

 

Reisetagebuch, 11 Mai 2012 Leon

 

Nachdem ich am Flughafen Asturias auf den letzten Drücker noch meinen Bus nach Oviedo erwischt habe, kann ich mir in Oviedo am Busbahnhof etwas Zeit lassen. Der Supra Bus mit Fernziel Madrid und erstem Halt Leon fährt um 18.30h ab. Kaum an Bord, werden bereits Snacks und Getränke gereicht. Dazu Cartoons im Bord TV und Musik über kostenlose Kopfhörer. Ich gönne mir ein Wasser und ein Glas Weißwein. Die Fahrt geht durch eine beeindruckende Gebirgslandschaft, karstig und wild. Stellenweise liegt sogar noch Schnee. Am Busbahnhof Leon, pünktlich um 20.00h angekommen, schultere ich meinen Rucksack und rufe Thomas an. Mein Freund wartet bereits auf mich in Leon. Er ist schon seit ein paar Tagen da und erholt sich von seinen bisherigen 500 Kilometern zu Fuß. Mittlerweile läuft er den Camino zum zweiten Mal. Thomas ist Vierzig, erfolgreich selbständig und das, was man einen Barockmenschen nennt. Außerdem ist er unkompliziert und so unprätentiös wie eine Leberkässemmel. Breit grinsend sitzt er, zottelbärtig, ein Weinglas in der Hand, vor einer Bar gegenüber der Kathedrale. Meinen Rucksack stelle ich rasch im Hotel Paris, mitten im Zentrum, ab und lasse mir dann, bei einem Wein, alle seine bisherigen Abenteuer berichten. Thomas ist braungebrannt und seit Wochen unrasiert und wirkt sehr verwegen. Von seinen ursprünglich 93 Kilo hat er bereits etliche verloren. Nach ein paar Glas Tinto stößt eine Pilgerin zu uns, die Thomas bereits kennt. Melanie ist jung, gut drauf, trägt einen weißen Trillbi-Hut und bezeichnet sich als bekennende Lesbe. Von mir aus – jeder nach seiner Facon. Melanie erweist sich als trinkfest und hat eine wunderbar laute Lache. Wir schlendern weiter von Bar zu Bar durch das berüchtigte Barrio humido, das feuchte Viertel der Altstadt. Leon ist wirklich schön, der Wein ist gut, die Tapas reichlich und immer wieder kommen wir mit netten Einheimischen ins Gespräch. Morgens um zwei schlendern wir, leicht angeheitert, zurück zum Hotel. Das war ja mal ein netter Auftakt!

 

Reisetagebuch, 13. Mai 2012 Von Villadangos nach Astorga

 

Morgens um 05.30h lerne ich eine spezielle Spezies von Pilgern kennen: Cyclopus Tütenrascheliensis. Mit der Grubenlampe auf dem Kopf, emsig seinen Rucksack packend, raschelnd, hustend und räuspernd, kriegt diese Spezies innerhalb kürzester Zeit jeden Schlafsaal wach. Dabei ist der Cyclopus äußerst gewissenhaft und versäumt es nicht, jedem der noch Ruhenden mit seiner Stirnlampe freundlich ins Gesicht zu leuchten.

 

Punkt 06.00h spätestens verlässt er mit einem lustigen Lied auf den Lippen die Herberge. Vermutlich singt er dabei das „HeiHo Lied“, das Schneewittchens Zwerge immer sangen, bevor sie in ihr Bergwerk einfuhren. Strafende Blicke helfen nicht im Halbdunkel. Also versuche ich es mit einem scharfen „Kss“, ein Laut, der bei unartigen Hunden immer ganz gut funktioniert, der Tütenraschler ist immun dagegen.

 

Ich muss mir Präventivmassnahmen für die Zukunft überlegen. Im Laufe der Zeit finde ich heraus, dass exakt diese Pilger diejenigen sind, die schon mittags um 13.00h oder 14.00h in der nächsten Herberge einchecken, das Frühaufstehen ist nicht Ausdruck von Gesundheit und Fitness, sondern pure Panik kein Bett zu bekommen. Eine Art Hamsterverhalten. Aber ihr kriegt mich nicht. Ich habe einen gesunden Schlaf, dreh mich um und schnarche trotzig.

 

Um 08.00h sind wir wieder unterwegs, mein Rucksack ist immer noch gemein zu mir, aber es wird langsam besser. In Hospital de Orbigo schreiten wir angemessen würdevoll (Man kann auch würdevoll hinken!) über die mittelalterliche Brücke und suchen uns erstmal eine nette kleine Bar um ein paar Cafe und Kas Limon zu vertilgen. Als sich nach Orbigo der Weg teilt, entscheiden wir uns für den etwas längeren, aber schöneren. Stellenweise geht’s schon ganz flott bergauf, ein Vorgeschmack auf morgen, ich bin nicht so fit wie ich dachte, zumindest bergauf. Aber die Landschaft ist wunderschön und so ignoriere ich alles was mir gerade wehtut und trabe Thomas hinterher, der alle paar Sekunden einen neuen Klassiker der neuen deutschen Welle anstimmt. Immer wenn uns Fahrradpilger begegnen, singen wir einstimmig: „Gloria! In Excelsis Deeeeooo!“

 

Auf der Spitze eines Hügels im Schatten eines Olivenbaumes, vor einem Steinkreuz, rasten wir für eine Viertelstunde. Es ist heiß heute, keine Wolke am Himmel, Traumwetter.

In einem kleinen Dorf, dessen Namen mir entfallen ist, stoßen wir zum ersten Mal auf den Franken-Helmut, der vor der Dorfkneipe bei einem Glas Roten sitzt und die These vertritt, dass Rotwein gut für die Füße sei. Er kommt aus Unterfranken, nahe Würzburg, da sind solche Philosophien an der Tagesordnung. Ich habe ihn im Verdacht in Wirklichkeit Harald Schmidt zu sein, inkognito, mit Bart, aber er beharrt auf seiner Identität.

 

Auf der Hochebene begegnen uns an einer Bachfurt zwei riesige Molosserhunde, die sich als sehr verschmuste Viecher herausstellen. Hundert Meter weiter stoßen wir auf die dazugehörige Schafherde und ihren Schäfer, der ein netter, freundlicher, alter Herr ist und noch zwei weitere dieser Riesenhunde. 70 Kilo Hund blicken uns treuherzig an und erwarten gestreichelt zu werden. Na, wenn´s weiter nichts ist! Noch rund 8 – 9 Kilometer, höchstens!

 

Wir laufen weiter und, wie eine Fata Morgana, taucht hinter der Hügelkuppe eine Scheune auf, davor steht eine Art indonesischer Imbisswagen, beladen mit Getränken. Zu dem Imbisswagen und der Scheune gehören noch eine Hängematte und ein kleines Beduinenzelt. Betrieben wird diese exzentrische Oase von zwei drahtigen, braungebrannten Ayurveda - Jüngern aus Barcelona. Hier bin Mensch – hier darf ich sein, nur mit den Ayurveda Säften bin ich vorsichtig, meine Erfahrungen mit „gesundem Essen“ und veganer Ernährung endeten bislang immer in der verzweifelten Suche nach einer gewissen Örtlichkeit. Wir bleiben also bei Wasser, spenden aber dennoch ein paar Euro, allein schon für den Enthusiasmus der Beiden. Kurz vor Astorga mobilisieren wir nochmal unsere Kräfte und werden, knapp 400 Meter vor dem Ortseingang von einer eigenartigen Brückenkonstruktion in Schleifenbewegung über die Bahngleise geleitet.

 

Der Anstieg die Strasse hinauf fordert mich ein letztes Mal für heute und dann stehe ich vor der Herberge Albergue Siervas de Maria. Ein röhrendes „Hellooo Darlings!“ reißt uns aus der Kontemplation. Donna aus Kanada, der wir unterwegs schon zweimal begegnet sind, strahlt uns breit grinsend über ihre Nasenpiercings hinweg an. Donna ist um die 60, kurze, graue Haare, so breit wie hoch und macht den Eindruck aus dem Herrn der Ringe entflohen zu sein. Immer ein Strahlen im Gesicht und oft ein Bier in der Hand, verkörpert sie die pure Lust am Leben. Sie knuddelt uns im Vorbeigehen und schlappt dann in ihren FlipFlops weiter.

 

Thomas hat ein dringendes Bedürfnis nach einer Badewanne und verzichtet auf die Pilgerromantik, zugunsten eines „akzeptablen Mittelklassehotels“, wie er sich ausdrückt. Ich checke in der Herberge ein und freue mich, zur Abwechslung mal, von einem rauschebärtigen Herbergsvater auf Deutsch angesprochen zu werden. Na klar, ist ja auch ein Haus des Jakobsweg-Vereins. Und den Franken-Helmut treffe ich auch gleich wieder, denn er ist ein Mitbewohner meiner 6 Bett Habitacion. Ich betrachte die Tatsache, dass mein Zimmer im 2. Stock liegt, nicht als Affront, sondern als Herausforderung und stelle mich erstmal unter die Dusche.

 

Die zweite Herausforderung der Albergue, nach dem Aufstieg in den zweiten Stock, stellen die Toilettenkabinen dar. Die Eingangstür befindet sich so nah an der Schüssel, dass ein normales Hinsetzen, besonders mit Muskelkater, kaum möglich ist. Ein mehr oder minder elegantes Hinplumpsen lassen löst das Problem. Diese Lösung ist allerdings nicht für enorm Übergewichtige geeignet! Eine knappe Stunde später sitzen wir vor einer Pizzeria an der Plaza Mayor, zusammen mit Gabi aus Wisconsin, geboren in München, die so freundlich war, uns einen Platz an ihrem Tisch anzubieten. Bei einem ordentlichen Rioja für Thomas und einem leichten weißen Rueda für mich, beobachten wir das Treiben auf der Plaza. Vor dem Hotel nebenan findet eine Flamencovorführung statt, die Tänzerinnen lassen es sich nicht nehmen den einen oder anderen Touristen zum Mitmachen zu animieren. Jeder blamiert sich so gut, wie er eben kann.

 

Unser Kellner demonstriert eindrucksvoll, dass wir uns in einem Touristenort befinden. Erst nachdem ich ein paarmal saftig auf Spanisch fluche, bringt er es fertig, unsere Bestellung entgegenzunehmen, ohne sich dabei ständig hektisch nach allen Seiten umzusehen. Offenbar fehlt ihm die Geduld, sich auf Thomas sehr spezielle Form der internationalen Verständigung einzulassen. Nun ja. Ich bedanke mich im Geiste bei meinen mallorquinischen Freunden, die mir so schöne Flüche beigebracht haben. Der ganze Ort scheint auf den Beinen zu sein, Kinder rennen umher und spielen Fußball, Teenager versuchen sich gegenseitig zu imponieren, hübsche junge Mädchen zeigen ihre Schönheit und so viel Haut, wie der Anstand es zulässt. Dabei schauen sie möglichst desinteressiert und versuchen die Blicke der jungen Männer gleichzeitig zu erwidern und dabei schnell wegzugucken. Würdevolle und schick gekleidete ältere Senoras, schlendern Arm in Arm über die Plaza und beobachten das Treiben. Den Chic der Damen des Südens habe ich immer bewundert, selbst im Alter unterstreichen sie auf eine würdevolle Art ihre Weiblichkeit. Was sind wir Germanen und Kelten doch für Trampel dagegen!